Bildlexikon von Uwe Lüthje
und Dr. Horst Otto Müller


Carte de Visite-Kamera

Die Idee, Fotografien im üblichen Visitenkartenformat zu produzieren, kam dem Franzosen Andre Adolphe-Eugene Disderi Anfang der 1850er Jahre. 1853 ließ er sich ein Verfahren patentieren, mit dem jeweils mehrere Negative auf einer Kollodiumplatte aufgenommen werden konnten. Im Folgejahr ließ er sich das Verfahren für das Verkleinern von normalgroßen Fotografien auf das damals übliche Visitenkartenformat von ca. 6 x 9 cm patentieren.

Damit verbunden waren eine spürbare Senkung des Herstellungspreises. Außerdem begannen nun viele Menschen, ihre Porträts als Visitenkarten zu verschenken und die anderer, gerne auch Prominenter, zu sammeln. Sie wurden in speziellen Fotoalben aufbewahrt. Um 1859/1860 war eine regelrechte Invasion der Carte-de-Visite in den Schaufenstern der Ateliers zu beobachten, und eine Visitenkartenkamera gehörte fortan zur Standardausrüstung der Fotografen.
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Abbildung van Monckhoven - Visitkartenkamera
Désiré van Monckhoven:
Vollständiges Handbuch der Photographie,
1863, Abbildung auf S. 56.
 
Ein Kapitel dieses Handbuchs informiert ausführlich über die Blütezeit dieses besonderen Foto-Formats (ab ca. 1858) unter der Überschrift: 'Die Anfertigung von Bildern im Visitenkartenformat.'

Es heißt dort: "Diese in neuerer Zeit so beliebt gewordenen Miniaturbilder, welche ihres billigen Preises wegen dutzend- und hundertweise angefertigt und abgegeben werden, haben ihren Namen von der Ähnlichkeit ihrer Form mit der von Visitenkarten erhalten. Sie haben seit längerer Zeit zum grossen Theile die Anfertigung grösserer Bilder im Portraitfache verdrängt, und diejenigen Photographen, welche mit der Anfertigung dieser Bilder sich nicht zu beschäfti-gen verstehen, machen schlechte Geschäfte. - Ihre grosse und schnelle Verbreitung verdanken die Bildchen wohl besonders dem Umstande, dass sie billig sind und jedem Briefe beigeschlossen werden können.

Um diese Bilder in grösserer Menge herstellen zu können, sind Apparate, mit welchen man in einer Sitzung zwei bis vierundzwanzig negative Bilder auf einer Platte anfertigen kann, construirt; es wird hierdurch das Copiren leichter gemacht, denn wollte man in den kurzen Tagen nur mit einer Platte copiren, welche nur ein Bild enthält, so würde (S. 229/230) es unmöglich werden, Dutzende von Bildern an einem Tage abliefern zu können. [...]

Bei Anfertigung dieser Bilder hat man es in der Regel mit stehenden Figuren zu thun, und da ist es denn eine Hauptaufgabe, den Effect des Bildes durch geschmackvolle Ordnung der Stellung und der die Figur umgebenden Decorationen zu erhöhen. Besonders empfehle ich ein solches Arrangement, welches aussieht, als ob die stehende Person in irgend einer Handlung begriffen wäre, denn es kommt dadurch mehr Leben in das Bild. Eine Überladung der Umgebung der Figur mit Ornamenten ist jedenfalls ge-schmacklos, und je einfacher und gefälliger die Anordnung ist, desto mehr wird das Bild ansprechen; so z. B. ist es für einen Herrn sehr hübsch, wenn er sich nachlässig an eine Säule oder an einen Kamin lehnt, während es für Damen passender ist, wenn sie sich mit einer Hand leicht auf einen Stuhl oder einen Tisch stützen, und wenn die Vorhänge so geordnet sind, dass es scheint, als wären sie in ihrem Boudoir.

Wählt man zum Hintergrunde eine Landschaft, so sehe man darauf, dass dieselbe sich einigermassen der heimischen Gegend anpasst; denn es giebt nichts Absurderes, als eine Modedame mit Knicker und Crinolin, umgeben von den Ruinen Ninives, zu erblicken.

Man achte ganz besonders darauf, dass die Fussdecke, - der Teppich, auf welchem die Figur steht, - von einer (S. 230/231) so hellen Farbe ist, dass die Füsse und der untere Theil der Kleidung sich genügend abheben, denn es macht einen unangenehmen Eindruck, wenn diese Theile mit dem Boden verschwimmen. Bei einem Landschaftshintergrunde lasse man auf einem einfachen, lichtbraunen Papierteppiche stehen, denn man glaubt dann einen Kiesweg zu sehen: für das Zimmer aber bediene man sich eines parquetartig gequaderten Teppichs von Wolle oder Wachsleinwand.

Man stelle die zu portraitirende Person, wenn der Raum des Glashauses es erlaubt, möglichst weit vom Hintergrunde entfernt auf, denn dadurch wird, wenn man einen Landschaftshintergrund gebraucht, die Zeichnung weicher und verschwimmender und der Natur ähnlicher [...]."
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Monckhoven - Visitkartenkamera - geoeffnet
Désiré van Monckhoven:
Vollständiges Handbuch der Photographie,
1863, Abbildung auf S. 114.
 
Dieses Patent (mit der genialen Idee dahinter) erwies sich als dauerhaft praktikabel, was zum Beispiel eine analoge Passkamera aus der zweiten Hälfte des 20. Jhs. (Polaroid 'Miniportrait' [es gab unterschiedliche Modelle]) eindrücklich belegt.
 
Kamera - Polaroid Miniportrait - klein